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Beziehungen zwischen chemischer Struktur und Physiologischer Wirkungen von Arzneistoffen  
(
Kurz : Struktur – Wirkungsbeziehungen)

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

das Thema möchte ich Ihnen am Beispiel die Geschichte und Entwicklung von Chemotherapeutica an Beispielen aus der Arzneimittelchemie bis in die Gegenwart darstellen.

Bevor man sich über die Struktur-Wirkungsbeziehungen unterhält, muss man zuerst einige Begriffe klären.

Unter "Infektionskrankheit" versteht man heute alle Erkrankungen, die durch Viren, Protozoen, Bakterien, Pilze, Würmer oder durch innere und äußere Parasiten hervorgerufen werden können.

Während man früher Arzneistoffe zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten je nach ihrer Gewinnungsart in "Antibiotica" und "Chemotherapeutica" unterteilte, faßt man heute unter diesem Begriff alle chemisch definierten, niedermolekularen Wirkstoffe zusammen, die zur Prophylaxe und Therapie von Infektionskrankheiten und malignen Tumoren eingesetzt werden. Gleichgültig, ob es sich dabei um Naturstoffe, abgewandelte Naturstoffe oder Synthetica handelt.

Warum gerade Chemotherapeutica als Beispiel ?

Erstens weil diese Arzneistoffklasse mich von Beginn meiner Beschäftigung mit pharmazeutisch-chemischen Fragestellungen bis heute am meisten fasziniert.

Zweitens weil ich, wie viele andere auch, im Gegensatz zu einer Reihe von Stoffen, deren therapeutischer Wert zweifelhaft ist, Chemotherapeutica zu den unverzichtbaren Arzneistoffen rechne.

Drittens, weil es auf diesem Gebiet für die Pharmazeutische Chemie zwar große Erfolge gab, aber immer noch große Herausforderungen bestehen.

Legt man die Definition der Weltgesundheitsorganisation zu Grunde und betrachtet nur Einzelsubstanzen, sind ca. 1/3 aller Arzneistoffe Chemotherapeutica. Eine Behandlung aller Stoffe ist daher hier unmöglich. Ich kann und werde ihnen also nur eine subjektive Auswahl von Beispielen geben. Wie Ihnen vielleicht bekannt ist, sind bis heute leider, je nach Definition, nur ca. 20 - 50 % aller Erkrankungen überhaupt durch Arzneimittel beeinflussbar. In diesen Prozentsatz fallen auch die Krankheiten, die sich nur symptomatisch, also bestenfalls mit Linderung des Leidens, behandeln lassen. Als durch Arzneistoffe heilbar gelten nur ca. 5-10 % aller Erkrankungen. Auch auf dem Gebiet der Chemotherapeutica, die den Hauptteil dieser Heilmittel stellen, und bei denen seit der ersten Oberflächendesinfektion mit Phenol durch Lister im Jahre 1867 enorme Fortschritte gemacht worden sind, muss weiterhin umfangreich gearbeitet werden. Sei es um Resistenzen zu bekämpfen, verträglichere oder spezifischere Substanzen zu erzielen, oder bisher nicht therapierbare Erkrankungen wirksam angehen zu können. Für die Erklärung der Wirkungen von Substanzen auf Lebewesen gibt es eine Reihe unterschiedlicher Vorstellungen[1], von denen für die Entwicklung der Chemotherapeutica die von Ehrlich begründete Rezeptor-Theorie die wohl wichtigste war. Unabhängig vom vielschichtigen Gesamtschicksal eines Arzneimittels in einem Organismus, das von einer Vielzahl von Parametern beeinflusst wird, hat sich bei vielen Arzneistoffen gezeigt, dass die biologischen Effekte nur von der Ausbildung eines Pharmakon-Rezeptorkomplexes abhängen. Dieser wird meist nur von bestimmten Molekülbezirken, den sogenannten "pharmakophoren Gruppen", eingegangen.

Die Wirkung beruht dann auf spezifischen, teils reversiblen, teils irreversiblen Wechselwirkungen, wie z.B. chemische Umsetzung zu kovalenten Bindungen, hydrophoben Wechselwirkungen oder Ionenbeziehungen zu dem Rezeptor.  Dieser Wirkmechanismus gilt besonders für Chemotherapeutica, bei denen es sich ja im Idealfall um Stoffe mit selektiver Toxizität im Sinne der Ehrlichschen "Zauberkugel" für den "Fremd"-Organismus handelt. Von den ß-Lactamen z.B. weiß man, daß sie in der Kaskade der Zellwandbiosynthese den letzten verknüpfenden Schritt[2] der Peptidoglycan-Synthese durch Acylierung inaktivieren.

Dia. B1 [ß-Lactame/Ala-Ala Vergleich]

Gestützt wird diese Annahme durch die Konformationsähnlichkeiten zwischen dem den ß-Lactamen zugrunde liegenden Dipeptid aus D-Cystein und D-Valin und dem eigentlichen Substrat der Carboxypeptidase, einem Peptid mit der Teilstruktur des D-Alanyl-D-alanin als reaktivem Zentrum.  Dies ist in der Computersimulation der Partialstrukturen gut darstellbar.

Dia. B2 [Computersimulation ß-Lact./Ala-Ala]

Der Rechner stellt Kohlenstoff blau, Wasserstoff weiß, Sauerstoff rot, Schwefel gelb und Stickstoff violett dar.

Mit dieser kurzen Erwähnung möchte ich jedoch die ß-Lactame und ihre Weiterentwicklungen aus meinem Vortrag ausklammern, da sie doch eine recht komplexe und schwierige Chemie besitzen. An den Anfang der Besprechung von Beispielen möchte ich eine alte, aber dennoch hoch aktuelle Substanz stellen, die einen Teil der Schwierigkeiten der Arzneimittelentwicklungen deutlich macht.

Dia. B3 [Wirkm. des Cisplatin]

Bei dem Krebschemotherapeuticum Cisplatini handelt es sich in vieler Hinsicht um einen "Exoten" im Arzneischatz. So sind z.B. Anorganika nur zu ca. 10 % unter den Arzneistoffen vertreten und ihre anwendungsbezogene Bedeutung ist noch geringer. Doch die "Anorganica" sind z.Zt. "im Kommen". In neuester Zeit werden zum Beispiel umfangreich Goldverbindungen [Auranofin] auf ihre Eignung zur Therapie der "Volksseuche" Rheuma untersucht. Der Wirkmechanismus des Cisplatini ist weitgehend geklärt. Wirkstoff ist, wie im INN-Namen[3] angedeutet, die cis-Form. Die trans-Form ist praktisch unwirksam. In Abhängigkeit von der Chloridionenkonzentration im Gewebe bzw. der Körperflüssigkeit wird aus Cisplatini der 2+ geladene diaqua-diammin-[1] Komplex, der als Wirkform anzusprechen ist. Mit Isotopenmarkierungen [192Pt, 195Pt] konnte ein Wirkmechanismus nach dem "crossing link" Prinzip unter kovalenter Fixierung der DNA über Platin wahrscheinlich gemacht werden[2]. Damit wird eine Reduplikation der Erbsubstanz und damit eine weitere Vermehrung der entarteten Zellen verhindert. Im Idealfalle wird so das weitere Krebswachstum gestoppt. Auf Einzelheiten und Probleme der Pharmakologie des Stoffes, seine Nebenwirkungen auf gesunde Zellen [Niere] sowie Resistenzentwicklungen möchte ich hier nicht eingehen. Um, wie beschrieben wirken zu können, muß sich die Wirkform zwischen die DNA-Stränge quasi 'drängen' können. Der Abstand zwischen den Basenpaaren Cytosin und Guanin bzw. Adenin und Thymin beträgt ca. 280 - 300 pm.  "Dazwischen zu passen" ist für ein Molekül mit Platin als Zentralatom [Atomradius ca.138 pm] auf den ersten Blick nur schwer vorstellbar.

Dia. B4 [Computersimulation Cisplatin und Diaquakomplex]

Der Nachbau der Moleküle am Computer (Platin blaugrün, Chlor gelbgrün Stickstoff blau, Sauerstoff rot und Wasserstoff weiß), zeigt jedoch eindrucksvoll die Änderung der Molekülgröße zwischen Transportform, Moleküldurchmesser ca. 600 pm, [Atomradius Pt 1.38 Å, Cl 0.99 Å, N 0.7 Å, H 0.3 Å] und Wirkform, Moleküldurchmesser ca. 300 pm, [Ionenradius Pt2+ 0.52 Å, O 0.66 Å] und macht so den geschilderten Sachverhalt viel anschaulicher.  Die Substanz selbst ist schon 1845 von Peyrone[3]. M. Peyrone, Ann. 51, 1 (1845) synthetisiert, und bemerkenswerterweise auch schon intuitiv mit richtiger Struktur beschrieben worden.

Lange Zeit war die Verbindung, wegen des Vorliegens in der cis-Form, nur von chemisch-theoretischem Interesse. Ihr Nutzen für die Krebschemotherapie wurde erst 1965 durch Rosenberg[4][4], also 120 Jahre nach der Erstsynthese, erkannt. Seit dieser Entdeckung hat eine stürmische Entwicklung auf dem Sektor der "Organoplatinverbindungen" mit dem Anwendungszweck "Chemotherapie maligner Erkrankungen" eingesetzt. Die therapeutischen Erfolge dieser Substanzen, z.B. beim Hodentumor sind beeindruckend, bei anderen, weit mehr Opfer fordernden Krebsformen wie z.B. Lungenkrebs, sind sie bisher leider enttäuschend.

Von einem "Sieg" über den Krebs, auch mit weiterentwickelten Organoplatinverbindungen, sind wir nach wie vor weit entfernt.

Das am Beispiel Cisplatini augenfällige Dilema der Arzneimittelchemie liegt darin, unter Umständen hoch wirksame Substanzen schon seit Jahren in der Hand zu halten ohne es zu wissen, weil nicht jede neu synthetisierte Substanz auf jede denkbare Wirkung getestet werden kann. Soweit dieses Beispiel für einen im wesentlichen Zufallstreffer. Heute unternimmt man, auch aus ökonomischen Gründen, eine Arzneistoffneuentwicklung kostet nach Angaben der Pharmazeutischen Industrie bis zum Handelspräparat ca. 100 Mio DM,   Anstrengungen, um weg vom Zufallsbefund zu rationelleren Methoden der Arzneistofffindung zu gelangen.

 

Welche Wege zu neuen Stoffen wurden historisch oder werden noch heute erprobt ?

Dia. B5 [Tabelle mit pot. Zugangswegen zu Arzneistoffen]

Einer der ältesten Wege zu Arzneistoffen ist die Nutzung von Naturstoffen. Der Weg zu ihnen ist sicher über Selbst- und Fremdversuch direkt am Menschen, oder über die Beobachtung von Tieren gefunden worden. Das wird sicher nicht ohne dramatische Irrtümer abgegangen sein. Man muss unsere Vorfahren für ihre Phantasie bewundern. Schon als Student hat mich das bekannte Beispiel der Betel-Kauer[5] beeindruckt : Wie konnte man nur, bereits um vor 500 v.Chr., auf die Idee kommen Arecanüsse, in denen das Alkaloid Arecaidin als Arecolin verestert vorliegt, mit ungelöschtem Kalk zur Verseifung des Esters zu kauen und dem Ganzen, zur Übertönung des wiederlichen Kalkgeschmack, auch noch die Scharfstoffdroge "piper betle" zuzusetzen ? Und alles rein empirisch gefunden, nur um sich ein Rauscherlebnis zu verschaffen? Aber sogar für die antibiotischen Eigenschaften von Schimmelpilzen gebührt eigentlich nicht Alexander Flemming das Erstentdeckungsrecht. Die mongolischen Reitervölker verwendeten schon vor Jahrhunderten auf unter "exakten Kulturbedingungen", auf Pferdesattelleder in Gruben mit Pferdemist wachsende Schimmelpilze für Wundverbände[6]. Auch bekannte Nahrungspflanzen wie Zwiebeln und Knoblauch wurden nachweislich schon 3000 v.Chr. medizinisch verwendet. Aus dem Jahre 1600 v. Chr. ist dann ein Streik der Pyramidenarbeiter aktenkundig[7]. Man hatte ihnen keinen Knoblauch, der gegen die, aufgrund der einseitigen Ernährung verbreiteten, Verdauungsbeschwerden angewendet wurde, zugeteilt. Der Wirkmechanismus dieser Gemüse ist heute bekannt. Aus den in diesen Pflanzen vorkommenden Glucosinolaten werden durch biochemische Prozesse die mit breitem antibiotischem Wirkungsspektrum versehenen Isothiocyanate freigesetzt.

 

Doch wie entwickelt man chemische definierte Arzneistoffe ?

E.Kutter schrieb 1978 in seinem Buch "Arzneimittelentwicklung" eine Einschätzung, die im wesentlichen bis heute richtig ist, auch wenn seither natürlich Fortschritte gemacht wurden : "Unsere Kenntnisse der Pharmakodynamik stehen noch am Anfang, die molekularbiologische Interpretation pathophysiologischer Prozesse ist oft ungeklärt. Vorstellungen des dreidimensionalen Baues von Rezeptoren beginnen erst. Basis und Kernstück jeder zielorientierten Suche nach neuen Wirkstoffen sind daher Überlegungen und Kenntnisse zu Struktur-Wirkungsbeziehungen, d.h. Interpretationen der biologischen Wirkung des Pharmakons aus seiner chemischen Struktur. In Ermangelung besseren Wissens müssen schöpferische Hypothesen als Basis der Arzneimittelentwicklung dienen."

Am Anfang steht seit dem Beginn der Arzneimittelforschung die "SCHÖPFERISCHE HYPOTHESE".

Einer der für den synthetisch arbeitenden Arzneimittelchemiker gangbarer Wege ist dabei der Ansatz, bekannte chemische Reaktivität für biologische Wirkungen zu nutzen. Die historische Abfolge dieser Entwicklung von rein synthetischen Chemotherapeutica nach diesem Konzept beginnt etwa um 1894 durch Nicolaur[8], mit der wohl ältesten vollsynthetischen Substanz mit Wirkung gegen bakterielle Erreger. Bis heute wird sie, obwohl eigentlich überholt, noch angewendet. Es handelt sich um das Hexamethylentetramin (Urotropini).

Farbdia

Dies ist die Darstellung des Computers in einer umgewöhnlichen Perspektive, gleichsam "von unten".

Dia. B6 [Hexamethylentetramin Wirkung]

Dies ist die erste "designed drug", das heißt, aufgrund chemischer Vorstellungen entwickelte Arzneisubstanz, lange vor der Entdeckung des heute modernen, oder sollte ich sagen modischen, "molecular modeling". Die zugrundeliegende Überlegung war, die pH abhängige Spaltung der Aminalstruktur zur Freisetzung des Formaldehyd im Urin zur "Desinfektion" der Harnwegsorgane zu nutzen. Über Ansäuern des Urins, z.B. durch Gabe von Citronensäure, sollte dabei die Wirkung steuerbar sein. Die Richtigkeit der chemischen Überlegung für die therapeutische Anwendung wurde 1920 von Shohl und Deming[9] bewiesen. Als bedenklich ist heute die Möglichkeit der unspezifischen Formaldehydfreisetzung in anderen Geweben einzustufen. Doch wie ich noch berichten werde, reicht der Kern der damalige Idee bis zu einer Arzneistoffneueinführung in unserer Zeit. Nach 1900, kam es dann zur Entdeckung und Einführung der sogenannten Arsenobenzole,

Dia. B7 [Arsphenamin Wirkung]

durch Paul Ehrlich [+ Hata Nobelpreis f.Med. 1908]. Wie bekannt, gründete Ehrlich seine Überlegungen auf zwei Tatsachen. Schon als Student hatte ihn beeindruckt, daß es möglich war, durch Farbstoffe bestimmte Teile von Gewebeschnitten selektiv anzufärben. In seiner Doktorarbeit über "Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung" vertiefte er dieses Interessengebiet.

Bereits im dritten Semester seines Medizinstudiums hatte er sich bei der Beschäftigung mit einer Arbeit von Heubel über Bleivergiftungen den zweiten Ursprung seiner Theorie über die chemische Affinität zwischen Gift und Gewebszellen angeeignet. Ehrlichs Arbeiten beeinflussten die Vorstellungen über Chemotherapeutica bis heute nachhaltig. Eine für die weitere Entwicklung der Arzneimittelchemie insgesamt und nicht nur der Chemotherapie entscheidende Entdeckung war dann um 1932 der Beginn des "Zeitalters der Sulfonamide",

Dia. B8 [Prontosil Wirkung]

durch Gerhard Domagk[10] [Nobelpreis Med. 1939] und Mitarbeiter. Die Auswirkungen, auch in den anderen Arzneistoffklassen,  sind bis heute in unserem Arzneischatz zu finden. Auch diese Chemotherapeutica basierten auf der von Ehrlich begründeten Auswertung selektiver Anfärbemethoden. Gleichzeitig liegt hier der interessante Fall eines "falsch-positiven" Ergebnisses vor. Nicht die Azostruktur, sondern das in vivo entstehende 4-Aminobenzolsulfonamid war wirkentscheidend, was Domagk und Mitarbeiter jedoch bald erkannten. Vom Ansatz her lag hier ein "idealer" Arzneistoff vor. Das 4-Aminobenzolsulfonamid verdrängt bekanntlich die 4-Aminobenzoesäure in der vom Bakterium durchgeführten Synthesekaskade zur Folsäure. Die resultierende Schädigung macht dann die Bakterien für das menschliche Immunsystem überwindbar. Da die menschliche Zelle Folsäure nicht selbst synthetisiert, sondern als "Vitamin" von außen aufnimmt, ist dieses Wirkprinzip für Menschen untoxisch. Von sonstigen Problemen [Resistenz] bei der Anwendung von Sulfonamiden soll in dieser Betrachtungsweise dabei abgesehen werden. Für den Wirkmechanismus dieser Chemotherapeutica wurde dann um 1960 von Albert[11] der Begriff "pro-drug" geprägt, der heute noch viel benutzt wird. Er definierte ihn so: "Eine 'pro-drug' ist eine Substanz, die nach der Applikation erst in die aktuelle Substanz überführt wird und sich dann mit dem Rezeptor verbindet". Wichtige Erfolge gegen Infektionskrankheiten errangen dann das Penicillin [ab 1929] und seine Nachfolger. Doch diesen Teil der Entwicklung möchte ich, wie eingangs erwähnt, aussparen.

Die nächste mir bemerkenswerte Entdeckung sind die ersten Versuche der Chemotherapie von Krebs. Die Geschichte der alkierenden Pharmaka gegen Krebs beginnt mit der im ersten Weltkrieg gemachten Beobachtung, dass das Vergiftungsbild von Gasvergifteten mit Schwefellost mit Leukopenie[12] einhergeht. Über den Stickstofflost [1940] wurde dann das zur Leitsubstanz seiner Klasse werdende Cyclophosphamidi entwickelt.

Dia. B9 [Cyclophosphamid Biolog. Abbau, Wirkung]

Die Verbindung ist bei in vitro Tests nahezu unwirksam und wird erst im Organismus in die Wirkform umgewandelt. In der Leber erfolgt Hydroxylierung zu 4-Hydroxy-cyclophosphamid (I), welches mit Aldophosphamid (II) im Gleichgewicht steht. Erst im Gewebe entsteht, nicht-enzymatisch, unter Abspaltung von Acrolein[5] (III), die stärkste alkylierende Verbindung dieser Kaskade,
N,N- Bis-(2-chlorethyl)-phosphorsäurediamid (IV)
, die "Wirkform", neben anderen Metaboliten wie
4-Oxocyclophosphamid (V) oder Carbophosphamid (VI).
Der Wirkmechanismus dieser Substanz ist nicht nur eine einfache Alkylierung von Bio-Nucleophilen, sondern es wurde auch eine multiple Vernetzung zwischen Pyrimidin- und Purinbasen in Nucleinsäuren bewiesen. Doch leider mußte die, noch in den 60-iger Jahren bestehend Euphorie über dieses Pharmakon inzwischen einer realistischen Betrachtungsweise[6] weichen. Die nach diesem Bauprinzip entwickelten Stoffe wirken zwar in einigen Fällen [Leukämien, Hodgkin[7]] segensreich, ein Durchbruch zur endgültigen Heilung von Krebs sind auch sie nicht.

Auch auf dem immer wichtiger werdenden Feld der Mittel gegen Viren, Stichwort Aids[8],[13], gibt es interessante neuere Ansätze. So gibt es, da Viren bekanntlich keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, nur wenige Angriffspunkt für eine Chemotherapie[9].

Man muss also den, wie ich glaube modernsten, aber auch schwierigsten Weg, über mögliche biochemischen Unterschiede zwischen "Eigen" und "Fremd" wählen, um zum Erfolg zu kommen. Ein Beispiel stellt die 1977 erstmals publizierte antiviral wirksame Substanz Acicloviri, dar.

Dia. B10 [Aciclovir Wirkung] [Nucleosid-analogon mit "falschem Zucker", d.h. einer nur rudimentären Seitenkette]

Wirkform ist das Aciclovirtriphosphat, welches durch stufenweise enzymatische Phosphorylierung entsteht. Interessanterweise durch die viruseigene Thymidin-Kinase und nicht, wie nach der Struktur eigentlich zu erwarten, durch eine Purin-Nucleosid-Kinase. Acicloviri ist dabei überwiegend ein Substrat für die virus-kodierte und nur untergeordnet für die zelleigene Thyminkinase. Das hat zur Folge, daß nicht infizierte Zellen kaum Aciclovirmonophosphat bilden. Dieses ist jedoch Voraussetzung für die nachfolgende Triphosphatbildung durch zelleigene Kinasen zur Wirkform Aciclovirtriphosphat und Aufnahme dieser falschen Basen in die Nucleinsäure der Zellen. Dadurch werden nur die infizierten Zellen getroffen, in virusfreien Zellen erfolgt fast keine Schädigung. Bei allen Entwicklungen von Arzneistoffen gilt es jedoch, auch die Möglichkeiten von Nebenwirkungen oder Seiteneffekten zu beachten. Bei Metabolisierungsreaktionen z.B. können, wie bei der bekannten "Giftungsreaktion" durch "S-O Austausch" von Parathion zu Paraoxon

Dia. B10 [E605-E600 Matthies 146]

erläutern der zu einer erheblichen Verstärkung der toxischen Wirkung führt, erwünschte oder unerwünscht drastische Veränderungen der Wirkung eintreten. Ein weiteres Beispiel sind die Kaskaden der Reaktionen im Stoffwechsel am Beispiel der Benzodiazepine, von dessen verwirrender Fülle das nächste Dia einen Ausschnitt zeigt,

Dia. B11 [Benzodiazepine Roth 258] 

erläutern die zu gleichsinnig wirksamen oder gar wirkungsstärkere Substanzen führen können.

Aus ihren Bearbeitung resultierten dann oft eigenständige Arzneistoffeinführungen, die mitunter sogar therapeutisch wertvoller als die Leitverbindung waren. Besonders eindrucksvoll finde ich dabei auch Metabolisierungswege von ursprünglich "harmlosen" zu carcinogenen Substanzen. Das möchte ich an einem nicht-Arzneistoff-Beispiel erläutern.

Dia. B11 [Acetylaminofluoren "Giftungsreaktion"]

Aus dem 2-Acetylaminofluoren[14], einem wenig toxischen Synthesezwischenprodukt, machen die Leberenzyme der meisten Säugetiere, auch der Mensch, ein als Alkylants wirkendes carcinogenes Kation. Pikanterweise fehlen dem Meerschweinchen, einem häufig genutzten Versuchstier, die Enzyme für die N-Hydroxylierung. Daher zeigt 2-Acetylaminofluoren bei ihm keine krebserzeugende Wirkung. Füttert man jedoch das N-Hydroxylderivat, treten die, nach den Erfahrungen am anderen Säugetieren zu erwartenden, Tumorraten auf. Ein augenfälliger Beweis, wie sorgfältig carcinogenes Potential vor der Anwendung am Menschen experimentell ermittelt werden muss. Welchen windungsreichen Weg Arzneistoffentwicklungen manchmal gehen, möchte ich dadurch erläutern, daß ich auf das schon erwähnte Urotropini zurückkomme. Erst in jüngster Zeit zeigte sich welche Möglichkeiten noch in der ursprünglichen chemischen Idee stecken. Dazu musste man nur die Ausgangsidee mit moderneren Konzepten verbinden. Um 1970 hatte Kreutzkamp[15] versucht, die Transportformentheorie zu systematisieren.

Dia. B12 [Transp. 1.ter Art und Transp. 2.ter Art]

Er definierte einerseits Transportformen 1.ter Art, die dem Schema im oberen Teil des Dia entsprechen, also über Zerfall in Wirk- und Transportteil ihre Wirkung entfalten. Allerdings können, wie z.B. beim Urotropin zu beobachten, durch unspezifische Freisetzungen [von Formaldehyd] unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Dieser Gefahr kann durch den Einsatz einer, nach Kreutzkamp als Transportform 2.ter Art [unterer Teil des Dias] zu bezeichnenden Weiterentwicklung, die direkt aus dem intakten Molekül den Wirkteil auf den Rezeptor überträgt, ohne daß dieser frei auftritt, vermieden werden. Ob den Entwicklern des Taurolidini (TaurolinR) diese Überlegungen bekannt waren oder nicht, weiß ich leider nicht.

Dia. B13 [Taurolidin Wirkung]

Der von ihnen entwickelte Arzneistoff stellt jedoch ein Musterbeispiel für eine Transportform 2.ter Art dar. Als Wirkmechanismus konnte eine direkte Reaktion der, durch Plasmaenzyme freigesetzten, von den Autoren "aktiven Methylol-Gruppen", genannten aminalischen Kohlenstoffe, durch Vernetzungsreaktionen mit Methylenbrücken und/oder Voll- bzw. Halbaminalbildung mit freien bakteriellen Aminogruppen oder Hydroxylfunktionen wahrscheinlich gemacht werden. Durch 14C-Radiomarkierung konnte gezeigt werden, daß maximal die drei mit Pfeilen bezeichneten Kohlenstoffe beteiligt sind. Die anfangs vermutete Wirkung über freies Formaldehyd wurde durch gaschromatographische Messungen mit Sicherheit, die gemessen Konzentrationen an freiem Formaldehyd waren kleiner als 0.004%, ausgeschlossen[16].

Hiermit bin ich fast am Ende meiner Ausführungen.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen, ich erinnere nur an den Weg von 1894 Urotropin bis 1989 Taurolidin, ausgehend von der historischen Entwicklung einmündend in moderne Arbeit zeigen, daß das Prinzip chemische Reaktivität zur Erzielung biologischer Wirkungen zu nutzen zwar alt bekannt, aber immer noch als aktuell ist. Die Aufgabe des Arzneimittelchemikers ist es, auf der Basis guter Chemischer Kenntnisse mit erweitertem Biologischen Wissen die Wirkungen von Chemisch definierten Substanzen auf biologische Systeme zu erforschen.

  

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[1] Permeabilitätsbeeinflußung, Änderung des Redox-Potential, pKa-Wertänderungen
[2] 1) DD-Carboxypeptidase spaltet D-Ala--Ala,
2) Transpeptidase verknüpft D-Ala mit Glycin
[3]  international nonproprietary name
[4] Reaktion von Zellen auf Metallspuren aus OP-Besteck
[5] Schutz durch MESNA
[6] 1) Gesteigerter DNA-Reparaturmechanismus,
2) Permeabilitätseinschränkungen,
3) Produktion nucleophiler Stoffe als "Abfangreagentien"
[7] Entartung best. Retikulumszellen des lymph. Systems
[8] Zidovudin i, Retrovir R
[9] 1) Zellwandpenetration,
2) Uncoating (Abstoßen der Eiweißhülle),
3) Replikation (Virenbau),
4)Maturation (Neue  Eiweißhülle),
5) Release (Freisetzung)
 
[1] Neutrale Subst. erhalten den Namen des Moleküls. Nur anionische o
[2] Roth / Fenner, Arzneistoffe, Thieme Verlag, S.206 (1988)
[3] Ann. 51, 1 (1845)
[4] B. Rosenberg, Nature, 205, 698 (1965)
[5] E. Schneider, PhuZ, 6,161 (1986)
[6] Literatur ?
[7] J. Lutomski, PhuZ 2, 45 (1980)
[8] Nicolaur
[9] A.T. Shohl u. C.L. Deming, J.Urol., 4, 419, (1920)
[10] G. Domagk
[11] A. Albert, Selectiv Toxicity, S.30 (1960)
[12] Leukozytenuntergang unter 4000 Zellen/mm3. Anzeichen für Zelluntergang wie er z.B. beim Krebs vorkommt.
[13] RetrovirR (Zidovudini) 3'-Azido-2'-desoxythymidin, hemmt die reverse Transkriptase der Retroviren
[14] Naehrstedt, PhuZ, 5, 151 (1977)
[15] wie 2
[16] P.G. Waser / E. Sibler, Inovative Appr. in Drug Res., 155 (1986)

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