Schriften

Entwicklungswege zu Chemotherapeutica

Herr Vorsitzender, sehr geehrte Kommissionsmitglieder,

meine sehr geehrten Damen und Herren.

Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung, die sich vornehmlich an die anwesenden Studenten richtet.

Dieser Vortrag ist Teil eines Habilitationsverfahrens.
Er soll einerseits, wie es in der Habilitationsordnung heißt : "im Zusammenhang mit der schriftlichen Habilitationsleistung stehen", andererseits soll er die Möglichkeit bieten die "Lehrbefähigung" zu überprüfen.
Daher habe ich ihn zweiteilig konzipiert. Im ersten Teil möchte ich auf die Historie und Entwicklung von Chemotherapeutica an Beispielen aus der Arzneimittelchemie bis in die jüngste Vergangenheit eingehen. Im zweiten Teil werde ich dann über den dieses Thema betreffenden Abschnitt meiner eigenen Untersuchungen berichten.
Bevor man sich über die Entwicklungswege unterhält, muss man zuerst einige Begriffe klären.
Unter "Infektionskrankheit" versteht man heute alle Erkrankungen, die durch Viren, Protozoen, Bakterien, Pilze, Würmer oder durch innere und äußere Parasiten hervorgerufen werden können.
Während man früher Arzneistoffe zur Bekämpfung von Infektionskrankheiten je nach ihrer Gewinnung, in "Antibiotica" und "Chemotherapeutica" unterteilte, fasst man heute unter diesem Begriff alle chemisch definierten, niedermolekularen Wirkstoffe zusammen, die zur Prophylaxe und Therapie von Infektionskrankheiten und malignen Tumoren eingesetzt werden. Gleichgültig, ob es sich dabei um Naturstoffe, abgewandelte Naturstoffe oder Synthetica handelt.

Warum gerade Chemotherapeutica als Thema ?

Erstens weil diese Arzneistoffklasse mich von Beginn meiner Beschäftigung mit pharmazeutisch-chemischen Fragestellungen bis heute am meisten fasziniert.

Zweitens weil ich, wie viele andere auch, im Gegensatz zu einer Reihe von Stoffen, deren therapeutischer Wert zweifelhaft ist, Chemotherapeutica zu den unverzichtbaren Arzneistoffen rechne.

Drittens, weil es auf diesem Gebiet für die Pharmazeutische Chemie zwar große Erfolge gab, aber immer noch große Herausforderungen bestehen.

Legt man die Definition der Weltgesundheitsorganisation zu Grunde und betrachtet nur Einzelsubstanzen, sind ca. 1/3 aller Arzneistoffe Chemotherapeutica. Eine Behandlung aller Stoffe ist daher hier unmöglich. Ich kann und werde ihnen also nur eine subjekive Auswahl von Beispielen geben. Wie Ihnen allen wahrscheinlich bekannt ist, sind bis heute leider, je nach Definition, nur ca. 20 - 50 % aller Erkrankungen überhaupt durch Arzneimittel beeinflussbar. In diesen Prozentsatz fallen auch die Krankheiten, die sich nur symptomatisch, also bestenfalls mit Linderung des Leidens, behandeln lassen. Als durch Arzneistoffe heilbar gelten nur ca. 5-10 % aller Erkrankungen. Auch auf dem Gebiet der Chemotherapeutica, die den Hauptteil dieser Heilmittel stellen, und bei denen seit der ersten Oberflächendesinfektion mit Phenol durch Lister im Jahre 1867 enorme Fortschritte gemacht worden sind, muss weiterhin umfangreich gearbeitet werden. Sei es um Resistenzen zu bekämpfen, verträglichere oder spezifischere Substanzen zu erzielen, oder bisher nicht therapierbare Erkrankungen wirksam angehen zu können. Für die Erklärung der Wirkungen von Substanzen auf Lebewesen gibt es eine Reihe unterschiedlicher Vorstellungen (1), von denen für die Entwicklung der Chemotherapeutica die von Ehrlich begründete Rezeptor-Theorie die wohl wichtigste war. Unabhängig vom vielschichtigen Gesamtschicksal eines Arzneimittels in einem Organismus, das von einer Vielzahl von Parametern geprägt wird, hat sich bei vielen Arzneistoffen gezeigt, dass die biologischen Effekte nur von der Ausbildung eines Pharmakon-Rezeptorkomplexes abhängen. Dieser wird meist nur von bestimmten Molekülbezirken, den so genannten "pharmakophoren Gruppen", eingegangen.
Die Wirkung beruht dann auf spezifischen, teils reversiblen, teils irreversiblen Wechselwirkungen, wie z.B. chemische Umsetzung zu kovalenten Bindungen, hydrophoben Wechselwirkungen oder Ionenbeziehungen zu dem Rezeptor.
Dieser Wirkmechanismus gilt besonders für Chemotherapeutica, bei denen es sich ja im Idealfall um Stoffe mit selektiver Toxizität im Sinne der Ehrlichschen "Zauberkugel" für den "Fremd"-Organismus handelt. Von den ß-Lactamen z.B. weiß man, dass sie in der Kaskade der Zellwandbiosynthese den letzten verknüpfenden Schritt (2) der Peptidoglycan-Synthese durch Acylierung inaktivieren.

Dia.B1 [ß-Lactame/Ala-Ala Vergleich] 

Gestützt wird diese Annahme durch die Konformationsähnlichkeiten zwischen dem den ß-Lactamen zugrunde liegenden Dipeptid aus D-Cystein und D-Valin und dem eigentlichen Substrat der Carboxypeptidase, einem Peptid mit der Teilstruktur des D-Alanyl-D-alanin als reaktivem Zentrum. Dies ist in der Computersimulation der Partialstrukturen gut darstellbar. 

Dia.B2 [Computersimulation ß-Lact./Ala-Ala] 

Der Rechner stellt Kohlenstoff blau, Wasserstoff weiß, Sauerstoff rot, Schwefel gelb und Stickstoff violett dar.

Mit dieser kurzen Erwähnung möchte ich jedoch die ß-Lactame und ihre Weiterentwicklungen aus meinem Vortrag ausklammern, da Herr Professor Geffken erst kürzlich vor der Pharmazeutischen Gesellschaft über dieses Thema umfassend berichtet hat. An den Anfang der Besprechung von Beispielen möchte ich eine alte, aber dennoch hoch aktuelle Substanz stellen, die einen Teil der Schwierigkeiten der Arzneimittelentwicklungen deutlich macht.

Dia.B3 [Wirkm. des Cisplatin]

Bei dem Krebschemotherapeuticum Cisplatini handelt es sich in vieler Hinsicht um einen "Exoten" im Arzneischatz. So sind z.B. Anorganika nur zu ca. 10 % unter den Arzneistoffen vertreten und ihre anwendungsbezogene Bedeutung ist noch geringer. Doch die "Anorganica" sind z.Zt. "im Kommen". [Auranofin] Der Wirkmechanismus des Cisplatini ist weitgehend geklärt. Wirkstoff ist, wie im INN-Namen (3) angedeutet, die cis-Form. Die trans-Form ist praktisch unwirksam. In Abhängigkeit von der Chloridionen-konzentration im Gewebe bzw. der Körperflüssigkeit wird aus Cisplatini der 2+ geladene diaqua- diammin- (4) Komplex, der als Wirkform anzusprechen ist. Mit Isotopenmarkierungen [192Pt, 195Pt] konnte ein Wirkmechanismus nach dem "crossing link" Prinzip unter kovalenter Fixierung der DNA über Platin wahrscheinlich gemacht werden (5). Damit wird eine Reduplikation der Erbsubstanz und damit eine weitere Vermehrung der entarteten Zellen verhindert. Im Idealfalle wird so das weitere Krebswachstum gestoppt. Auf Einzelheiten und Probleme der Pharmakologie des Stoffes, seine Nebenwirkungen auf gesunde Zellen [Niere] sowie Resistenzentwicklungen möchte ich hier nicht eingehen.
Um, wie beschrieben wirken zu können, muß sich die Wirkform zwischen die DNA-Stränge quasi 'drängen' können. Der Abstand zwischen den Basenpaaren Cytosin und Guanin bzw. Adenin und Thymin beträgt ca. 280 - 300 pm. "Dazwischen zu passen" ist für ein Molekül mit Platin als Zentralatom [Atomradius ca.138 pm] auf den ersten Blick nur schwer vorstellbar.

Dia.B4 [Computersimulation Cisplatin und Diaquakomplex]

Der Nachbau der Moleküle am Computer (Platin blaugrün, Chlor gelbgrün Stickstoff blau, Sauerstoff rot und Wasserstoff weiß), zeigt jedoch eindrucksvoll die Änderung der Molekülgröße zwischen Transportform,Moleküldurchmesser ca. 600 pm, [Atomrad.Pt 1.38 Å, Cl 0.99 Å, N 0.7 Å, H 0.3 Å] und Wirkform,Moleküldurchmesser ca. 300 pm, [Ionenrad. Pt2+ 0.52 Å, O 0.66 Å] und macht so den geschilderten Sachverhalt viel anschaulicher. Die Substanz selbst ist schon 1845 von Peyrone (6) synthetisiert, und bemerkenswerterweise auch schon intuitiv mit richtiger Struktur beschrieben worden. Lange Zeit war die Verbindung, wegen des Vorliegens in der cis-Form, nur von chemisch-theoretischem Interesse. Ihr Nutzen für die Krebschemotherapie wurde erst 1965 durch Rosenberg (7) (8), also 120 Jahre nach der Erstsynthese, erkannt. Seit dieser Entdeckung hat eine stürmische Entwicklung auf dem Sektor der "Organoplatinverbindungen" mit dem Anwendungszweck "Chemotherapie maligner Erkrankungen" eingesetzt. Die therapeutischen Erfolge dieser Substanzen, z.B. beim Hodentumor sind beeindruckend, bei anderen, weit mehr Opfer fordernden Krebsformen wie z.B. Lungenkrebs, sind sie bisher leider enttäuschend. Von einem "Sieg" über den Krebs, auch mit weiterentwickelten Organoplatinverbindungen, sind wir nach wie vor weit entfernt.
Das am Beispiel Cisplatini augenfällige Dilema der Arzneimittelchemie liegt darin, unter Umständen hoch wirksame Substanzen schon seit Jahren in der Hand zu halten ohne es zu wissen, weil nicht jede neu synthetisierte Substanz auf jede denkbare Wirkung getestet werden kann. Soweit dieses Beispiel für einen im wesentlichen Zufallstreffer. Heute unternimmt man, auch aus ökonomischen Gründen, eine Arzneistoffneuentwicklung kostet nach Angaben der Pharmazeutischen Industrie bis zum Handelspräparat ca. 100 Mio DM, Anstrengungen, um weg vom Zufallsbefund zu rationelleren Methoden der Arzneistoffindung zu gelangen.
 

Welche Wege zu neuen Stoffen wurden historisch oder werden noch heute erprobt ?

Dia.B5 [Tabelle mit pot. Zugangswegen zu Arzneistoffen]

Einer der ältesten Wege zu Arzneistoffen ist die Nutzung von Naturstoffen. Der Weg zu ihnen ist sicher über Selbst- und Fremdversuch direkt am Menschen, oder über die Beobachtung von Tieren gefunden worden. Das wird sicher nicht ohne dramatische Irrtümer abgegangen sein. Man muß unsere Vorfahren für ihre Phantasie bewundern.
Schon als Student hat mich das bekannte Beispiel der Betel-Kauer (9) beeindruckt :
Wie konnte man nur, bereits um vor 500 v.Chr., auf die Idee kommen Arecanüsse, in denen das Alkaloid Arecaidin als Arecolin verestert vorliegt, mit ungelöschtem Kalk zur Verseifung des Esters zu kauen und dem Ganzen, zur Übertönung des wiederlichen Kalkgeschmack, auch noch die Scharfstoffdroge "piper betle" zuzusetzen ?
Und alles rein empirisch gefunden, nur um sich ein Rauscherlebnis zu verschaffen ?
Aber sogar für die antibiotischen Eigenschaften von Schimmelpilzen gebührt eigentlich nicht Alexander Flemming das Erstentdeckungsrecht. Die mongolischen Reitervölker verwendeten schon vor Jahrhunderten auf unter "exakten Kulturbedingungen", auf Pferdesattelleder in Gruben mit Pferdemist wachsende Schimmelpilze für Wundverbände (10).
Auch bekannte Nahrungspflanzen wie Zwiebeln und Knoblauch wurden nachweislich schon 3000 v.Chr. medizinisch verwendet. Aus dem Jahre 1600 v. Chr. ist dann ein Streik der Pyramidenarbeiter aktenkundig (11). Man hatte ihnen keinen Knoblauch, der gegen die, aufgrund der einseitigen Ernährung verbreiteten, Verdauungsbeschwerden angewendet wurde, zugeteilt.
Der Wirkmechanismus dieser Gemüse ist heute bekannt. Aus den in diesen Pflanzen vorkommenden Glucosinolaten werden durch biochemische Prozesse die mit breitem antibiotischen Wirkungsspektrum versehenen Isothiocyanate freigesetzt.

Doch wie entwickelt man chemische definierte Arzneistoffe ?

E.Kutter schrieb 1978 in seinem Buch "Arzneimittelentwicklung" eine Einschätzung, die im wesentlichen bis heute richtig ist, auch wenn seither natürlich Fortschritte gemacht wurden :
"Unsere Kenntnisse der Pharmakodynamik stehen noch am Anfang, die molekularbiologische Interpretation pathophysiologischer Prozesse ist oft ungeklärt. Vorstellungen des dreidimensionalen Baues von Rezeptoren beginnen erst.
Basis und Kernstück jeder zielorientierten Suche nach neuen Wirkstoffen sind daher Überlegungen und Kenntnisse zu Struktur-Wirkungsbeziehungen, d.h. Interpretationen der biologischen Wirkung des Pharmakons aus seiner chemischen Struktur.
In Ermangelung besseren Wissens müssen schöpferische Hypothesen als Basis der Arzneimittelentwicklung dienen."

Am Anfang steht seit dem Beginn der Arzneimittelforschung die

"SCHÖPFERISCHE HYPOTHESE".

Einer der für den synthetisch arbeitenden Arzneimittelchemiker gangbarer Wege ist dabei der Ansatz, bekannte chemische Reaktivität für biologische Wirkungen zu nutzen.
Die historische Abfolge dieser Entwicklung von rein synthetischen Chemotherapeutica nach diesem Konzept beginnt etwa um 1894 durch Nicolaur (12), mit der wohl ältesten vollsynthetischen Substanz mit Wirkung gegen bakterielle Erreger. Bis heute wird sie, obwohl eigentlich überholt, noch angewendet. Es handelt sich um das Hexamethylentetramin (Urotropini).

Dia.B6 [Hexamethylentetramin Wirkung]

Dies ist die erste "designed drug", das heißt, aufgrund chemischer Vorstellungen entwickelte Arzneisubstanz, lange vor der Entdeckung des heute modernen, oder sollte ich sagen modischen, "molecular modeling" . Die zugrundeliegende Überlegung war, die pH abhängige Spaltung der Aminalstruktur zur Freisetzung des Formaldehyd im Urin zur "Desinfektion" der Harnwegsorgane zu nutzen. Über Ansäuern des Urins, z.B. durch Gabe von Citronensäure, sollte dabei die Wirkung steuerbar sein. Die Richtigkeit der chemischen Überlegung für die therapeutischeAnwendung wurde 1920 von Shohl und Deming (13) bewiesen.  Als bedenklich ist heute die Möglichkeit der unspezifischen Formaldehydfreisetzung in anderen Geweben einzustufen. Doch wie ich noch berichten werde, reicht der Kern der damalige Idee bis zu einer Arzneistoffneueinführung in unserer Zeit. Nach 1900, kam es dann zur Entdeckung und Einführung der sogenannten Arsenobenzole,

DiaB7 [Arsphenamin Wirkung]

durch Paul Ehrlich [+ Hata Nobelpreis für Medizin 1908]. Wie bekannt, gründete Ehrlich seine Überlegungen auf zwei Tatsachen. Schon als Student hatte ihn beeindruckt, daß es möglich war, durch Farbstoffe bestimmte Teile von Gewebeschnitten selektiv anzufärben. In seiner Doktorarbeit über "Beiträge zur Theorie und Praxis der histologischen Färbung" vertiefte er dieses Interessengebiet. Bereits im dritten Semester seines Medizinstudiums hatte er sich bei der Beschäftigung mit einer Arbeit von Heubel über Bleivergiftungen den zweiten Ursprung seiner Theorie über die chemische Affinität zwischen Gift und Gewebszellen angeeignet. Ehrlichs Arbeiten beeinflußten die Vorstellungen über Chemotherapeutica bis heute nachhaltig.
Eine für die weitere Entwicklung der Arzneimittelchemie insgesamt und nicht nur der Chemotherapie entscheidende Entdeckung war dann um 1932 der Beginn des "Zeitalters der Sulfonamide",

DiaB8 [Prontosil Wirkung]

durch Gerhard Domagk (14) [Nobelpreis Med. 1939] und Mitarbeiter. Die Auswirkungen, auch in den anderen Arzneistoffklassen, sind bis heute in unserem Arzneischatz zu finden. Auch diese Chemotherapeutica basierten auf der von Ehrlich begründeten Auswertung selektiver Anfärbemethoden. Gleichzeitig liegt hier der interessante Fall eines "falsch-positiven" Ergebnisses vor. Nicht die Azostruktur, sondern das in vivo entstehende 4-Aminobenzolsulfonamid war wirkentscheidend, was Domagk und Mitarbeiter jedoch bald erkannten. Vom Ansatz her lag hier ein "idealer" Arzneistoff vor. Das 4-Aminobenzolsulfonamid verdrängt bekanntlich die 4-Aminobenzoesäure in der vom Bakterium durchgeführten Synthesekaskade zur Folsäure. Die resultierende Schädigung macht dann die Bakterien für das menschliche Immunsystem überwindbar. Da die menschliche Zelle Folsäure nicht selbst synthetisiert, sondern als "Vitamin" von außen aufnimmt, ist dieses Wirkprinzip für Menschen untoxisch. Von sonstigen Problemen [Resistenz] bei der Anwendung von Sulfonamiden soll in dieser Betrachtungsweise dabei abgesehen werden. Für den Wirkmechanismus dieser Chemotherapeutica wurde dann um 1960 von Albert (15) der Begriff "pro-drug" geprägt, der heute noch viel benutzt wird. Er definierte ihn so: "Eine 'pro-drug' ist eine Substanz, die nach der Applikation erst in die aktuelle Substanz überführt wird und sich dann mit dem Rezeptor verbindet." Wichtige Erfolge gegen Infektionskrankheiten errangen dann das Penicillin [ab 1929] und seine Nachfolger. Doch diesen Teil der Entwicklung möchte ich, wie eingangs erwähnt, aussparen. Die nächste mir bemerkenswerte Entdeckung sind die ersten Versuche der Chemotherapie von Krebs. Die Geschichte der alkierenden Pharmaka gegen Krebs beginnt mit der im ersten Weltkrieg gemachten Beobachtung, daß das Vergiftungsbild von Gasvergifteten mit Schwefellost mit Leukopenie (16) einhergeht. Über den Stickstofflost [1940] wurde dann das zur Leitsubstanz seiner Klasse werdende Cyclophosphamidi entwickelt.

Dia.B9 [Cyclophosphamid Biolog. Abbau, Wirkung]

Die Verbindung ist bei in vitro Tests nahezu unwirksam und wird erst im Organismus in die Wirkform umgewandelt. In der Leber erfolgt Hydroxylierung zu 4-Hydroxy-cyclophosphamid (I), welches mit Aldophosphamid (II) im Gleichgewicht steht. Erst im Gewebe entsteht, nicht-enzymatisch, unter Abspaltung von Acrolein (17) (III), die stärkste alkylierende Verbindung dieser Kaskade, N,N- Bis-(2-chlorethyl)-phosphorsäurediamid (IV), die "Wirkform", neben anderen Metaboliten wie 4-Oxocyclophosphamid (V) oder Carbophosphamid (VI).
Der Wirkmechanismus dieser Substanz ist nicht nur eine einfache Alkylierung von Bio-Nucleophilen, sondern es wurde auch eine multiple Vernetzung zwischen Pyrimidin- und Purinbasen in Nucleinsäuren bewiesen.  Doch leider mußte die, noch in den 60-iger Jahren bestehend Euphorie über dieses Pharmakon inzwischen einer realistischen Betrachtungsweise (18) weichen. Die nach diesem Bauprinzip entwickelten Stoffe wirken zwar in einigen Fällen [Leukämien, Hodgkin (19)] segensreich, ein Durchbruch zur endgültigen Heilung von Krebs sind auch sie nicht. Auch auf dem immer wichtiger werdenden Feld der Mittel gegen Viren, Stichwort Aids (20), (21), gibt es interessante neuere Ansätze. So gibt es, da Viren bekanntlich keinen eigenen Stoffwechsel besitzen, nur wenige Angriffspunkt für eine Chemotherapie (22). Man muß also den, wie ich glaube modernsten, aber auch schwierigsten Weg, über mögliche biochemischen Unterschiede zwischen "Eigen" und "Fremd" wählen, um zum Erfolg zu kommen.
Ein Beispiel stellt die 1977 erstmals publizierte antiviral wirksame Substanz Acicloviri, dar.

Dia.B10 [Aciclovir Wirkung] [Nucleosid-analogon mit "falschem Zucker", d.h. einer nur rudimentären Seitenkette]

Wirkform ist das Aciclovirtriphosphat, welches durch stufenweise enzymatische Phosphorylierung entsteht. Interessanterweise durch die viruseigene Thymidin-Kinase und nicht, wie nach der Struktur eigentlich zu erwarten, durch eine Purin-Nucleosid-Kinase. Acicloviri ist dabei überwiegend ein Substrat für die virus-kodierte und nur untergeordnet für die zelleigene Thyminkinase. Das hat zur Folge, daß nicht infizierte Zellen kaum Aciclovirmonophosphat bilden. Dieses ist jedoch Voraussetzung für die nachfolgende Triphosphatbildung durch zelleigene Kinasen zur Wirkform Aciclovirtriphosphat und Aufnahme dieser falschen Basen in die Nucleinsäure der Zellen. Dadurch werden nur die infizierten Zellen getroffen, in virusfreien Zellen erfolgt fast keine Schädigung. Bei allen Entwicklungen von Arzneistoffen gilt es jedoch, auch die Möglichkeiten von Nebenwirkungen oder Seiteneffekten zu beachten. Besonders eindrucksvoll finde ich dabei auch Metabolisierungswege von ursprünglich "harmlosen" zu carcinogenen Substanzen. Das möchte ich an einem nicht-Arzneistoff-Beispiel erläutern.

Dia.B11 [Acetylaminofluoren "Giftungsreaktion"]

Aus dem 2-Acetylaminofluoren (23), einem wenig toxischen Synthesezwischenprodukt, machen die Leberenzyme der meisten Säugetiere, auch der Mensch, ein als Alkylants wirkendes carcinogenes Kation. Pikanterweise fehlen dem Meerschweinchen, einem häufig genutzten Versuchstier, die Enzyme für die N-Hydroxylierung. Daher zeigt 2-Acetylaminofluoren bei ihm keine krebserzeugende Wirkung. Füttert man jedoch das N-Hydroxylderivat, treten die, nach den Erfahrungen am anderen Säugetieren zu erwartenden, Tumorraten auf. Ein augenfälliger Beweis, wie sorgfältig carcinogenes Potential vor der Anwendung am Menschen experimentell ermittelt werden muß. Welchen windungsreichen Weg Arzneistoffentwicklungen manchmal gehen, möchte ich dadurch erläutern, daß ich auf das schon erwähnte Urotropini zurückkomme. Erst in jüngster Zeit zeigte sich welche Möglichkeiten noch in der ursprünglichen chemischen Idee stecken. Dazu mußte man nur die Ausgangsidee mit moderneren Konzepten verbinden. Um 1970 hatte Kreutzkamp (24) versucht, die Transportformentheorie zu systematisieren.

Dia.B12 [Transp. 1.ter Art und Transp. 2.ter Art]

Er definierte einerseits Transportformen 1.ter Art, die dem Schema im oberen Teil des Dia entsprechen, also über Zerfall in Wirk- und Transportteil ihre Wirkung entfalten. Allerdings können, wie z.B. beim Urotropin zu beobachten, durch unspezifische Freisetzungen [von Formaldehyd] unerwünschte Nebenwirkungen auftreten. Dieser Gefahr kann durch den Einsatz einer, nach Kreutzkamp als Transportform 2.ter Art [unterer Teil des Dias] zu bezeichnenden Weiterentwicklung, die direkt aus dem intakten Molekül den Wirkteil auf den Rezeptor überträgt, ohne daß dieser frei auftritt, vermieden werden. Ob den Entwicklern des Taurolidini (TaurolinR) diese Überlegungen bekannt waren oder nicht, weiß ich leider nicht.

Dia.B13 [Taurolidin Wirkung]

Der von ihnen entwickelte Arzneistoff stellt jedoch ein Musterbeispiel für eine Transportform 2.ter Art dar. Als Wirkmechanismus konnte eine direkte Reaktion der, durch Plasmaenzyme freigesetzten, von den Autoren "aktiven Methylol-Gruppen", genannten aminalischen Kohlenstoffe, durch Vernetzungsreaktionen mit Methylenbrücken und/oder Voll- bzw. Halbaminalbildung mit freien bakteriellen Aminogruppen oder Hydroxylfunktionen wahrscheinlich gemacht werden. Durch 14C-Radiomarkierung konnte gezeigt werden, daß maximal die drei mit Pfeilen bezeichneten Kohlenstoffe beteiligt sind. Die anfangs vermutete Wirkung über freies Formaldehyd wurde durch gaschromatographische Messungen mit Sicherheit, die gemessen Konzentrationen an freiem Formaldehyd waren kleiner als 0.004%, ausgeschlossen (25).

Damit zum zweiten Teil meines Vortrages.

Anknüpfend an die referierten Erkenntnisse habe ich für meine Untersuchungen die Isocyanate gewählt und möchte die Gründe dafür erläutern.

1. Isocyanate können mit nucleophilen Gruppen in biologisch wichtigen Molekülen stabile Addukte bilden.

Damit sind häufig pharmakologische Effekte, oft toxischer Art (26), verbunden und daher können diese Verbindungen nicht direkt therapeutisch genutzt werden.

2. Isocyanate sind potentiell als germicide Stoffe geeignet, wenn es gelingt, ihre toxischen Effekte selektiver und moderater zu gestalten.

Bei vielen Entwicklungen synthetischer Chemotherapeutica zeigt sich in der Anwendung, daß chemisch hoch reaktive Strukturen wegen ihrer oft unspezifischen Wirkungen nicht einsetzbar sind. So hatten sich bei Pharmaka auf der Basis von Senfölbildnern gerade die in vitro hoch wirksamen Stoffe in vivo als unbrauchbar erwiesen, da sie zu leicht zu Senfölen zerfallen und damit in der Anwendung die gleichen Probleme, wie z.B. Reizwirkungen und Unverträglichkeiten, wie jene aufweisen (27). Somit kann man im allgemeinen Verbindungen mit abgeschwächter chemischer Reaktivität als "aussichtsreichere Kandidaten" für potentielle Arzneistoffe ansehen.

3. Weiterhin gibt es Hinweise auf den Mechanismus (28) der Wirkungen von Isocyanaten.

Zielmoleküle sind in diesen Fällen Amino- und Amidogruppen von Proteinen. Damit existiert auch ein Angriffspunkt, der für erwünschte pharmakologische Wirkungen denkbar ist.

4. Ferner kennt man eine größere Zahl sehr unterschiedlich konstruierter Verbindungen, die als Isocyanatpräkursoren nutzbar sind.

Einige von ihnen, unter Ausklammerung cyclischer Derivate, sind im folgenden Bild zusammengestellt (29).

Dia.B14 [Verschiedene Isocyanatspalter]

Diese und andere "verkappte Isocyanate", besonders aus der Reihe der Diisocyanate, werden für Polymerisationsreaktionen großtechnisch genutzt, da ihr Zerfall thermisch auslösbar ist. Die Nutzung derartiger Abspaltungseigenschaften für pharmakologische Zwecke war hingegen meines Wissens bisher noch nicht untersucht worden. Als Untersuchungsobjekt erschienen mir die N-substituierten, N'-acylierten Harnstoffe besonders geeignet. Für sie spricht, daß die Harnstoffpartialstruktur in einer großen Zahl von bekannten Arzneistoffen enthalten ist. Es scheint daß Harnstoffe, möglicherweise wegen ihrer Verwandtschaft mit natürlich auftretenden Verbindungen, zu den "biologisch tolerierbaren" Strukturen gehört. In gängigen Lehrbücher und in zusammenfassenden Artikeln werden Harnstoffderivate mit : anaesthetischer, pesticider, antidiabetischer, antidepressiver, antituberkulöser, hypoglykämischer, antikonvulsiver, antineoplastischer und hypnotischer Wirkung sowie als Pflanzenschutz- und Schädlingsbekämpfungsmittel beschrieben. Es sprengte diese Darstellung, alle Anwendungen mit Strukturbeispielen zu belegen.

Dia.B15 [Arzneistoffbeispiele]

Mit diesen, zum Teil in Heterocyclen eingebundenen Harnstoffstrukturen möchte ich Ihnen daher nur zeigen, wie vielfältig alleine die Anwendungen als Chemotherapeutica sind. Hierbei bitte ich besonders das Krebsmittel Carmustini zu beachten. Das folgende Bild,

DiaB16 [omputersimulation Carmustin]

zeigt das Molekül, welches in meinen Ausgangsüberlegungen eine zentrale Rolle spielte, in der Computersimulation. In dieseem Fall ist Kohlenstoff gelb, Wasserstoff weiß, Stickstoff blau, Sauerstoff rot und Chlor grün dargestellt. Im nächsten Bild,

DiaB17 [Carmustin Wirkmech.]

sehen Sie die in der Literatur vermutete Erklärung der Wirkung. Hierbei wird stets auf das "alkylierende Carbeniumion" abgehoben, das mitentstehende Isocyanat wird nicht besonders behandelt. Weitgehend unbeachtet scheint dabei eine Veröffentlichung von Kann, Kohn und Lyles in "Cancer Research" von 1975 geblieben zu sein, die schreiben:

"The isocyanat seems to be important, since other N-nitroso-urea-compounds havelittle or no activity".

Ziel eines Teils meiner Untersuchungen war daher, Substanzen zu finden, die im Sinne einer Transportform 2.ter Art als Isocyanatpräcursoren fungieren können und diese auf zellteilungsbiologische Aktivität zu prüfen. Die N-substituierten, N'-acylierten Harnstoffe, sind als Stoffklasse schon seit über 100 Jahren bekannt.

Dia.B18 [Darstellungswege f. Acylureas]

Ihre Darstellung erfolgte meist durch Zusammenschmelzen der Ausgangsstoffe, Erhitzen von Amiden in flüssigen Isocyanaten oder Umsetzung beider Komponenten in hochsiedenden Lösungsmitteln. Weitere Zugangswege bieten die Umsetzung von Acylisocyanaten mit Aminen, die Acylierung von Harnstoffen sowie ein modifizierter Hofmann-Abbau. Ich habe, in etwas abgewandelter Form, als Hauptzugangsweg die Umsetzung von Säureamiden mit Isocyanaten gewählt, meist mit befriedigenden bis guten Ausbeuten. Daneben wurde für einige Derivate, für die erstere Methode nicht anwendbar ist, das Verfahren der Umsetzung von Acylisocyanaten mit Aminen oder aminanalogen Verbindungen verwendet. Nach beiden Methoden ist eine erwünschte breite Variation der Reaktionspartner möglich. 

Dia.B19 [Ergebnisse erster Spaltungen]

Schon bei ersten Spaltungsversuchen zeigte sich, daß die beiden prinzipiell denkbaren Spaltungswege zu Isocyanaten und Acylisocyanaten zur Beschreibung des wesentlich komplexeren Spaltungsverhaltens nicht ausreichten. Während im Falle der Piperidinolyse der Verbindung X = H sowohl Produkte eines Isocyanat- als auch Acylisocyanat- Zerfallsweges beobachtet werden konnten, wurde im Falle der Verbindung X = Cl nur ein analoges Acylisocyanat-Produkt gefunden. Da die Umsetzungen unter sonst gleichen Bedingungen durchgeführt wurden und die Aufarbeitung "low-bar"- säulenchromatographisch mit Wiederfindungsraten der eingesetzten Substanzmengen größer 80 - 90 % erfolgte, konnte der Zerfallsweg in diesem Fall nur von den Substituenten am Aromaten abhängig sein. Um diese Substituenteneinflüsse abzuklären, wurden umfangreich verschieden substituierter Verbindungen hergestellt. Das Zeigen entsprechender langer Tabellen möchte ich Ihnen jedoch hier und auch im Folgenden ersparen. Diese wurden dann in Spaltungsuntersuchungen in ihrem Verhalten gegen verschiedene Nucleophile getestet. Um die Zahl der sich ändernden Parameter nicht zu groß zu gestalten, wurden dazu "Standardbedingungen" bezüglich Lösungsmittel, Temperatur, Aufarbeitung usw. definiert und angewendet. Zusätzlich wurden Parallelversuche ohne Nucleophil angesetzt, um einen thermischen Zerfall ausschließen zu können. Es gelang mir dazu ein Verfahren zur "in-situ"-IR-Spektroskopie zu entwickeln.

Dia.B20 [Spektrum 1]

Nach Aufnahme eines Bezugsspektrums wurden Testlösung und Lösungsmittelvergleich direkt aus dem Ansatz durch ein Beckman Mikrolab 600 geleitet und im überlagerten Verfahren alle 5 bzw. 10 min ein Differenzspektrum aufgezeichnet. Um Rückreaktionen zu erkennen wurde das Erhitzen abgebrochen und bis zum Erkalten weiter registriert. So konnten die Spaltungsansätze während der Reaktion mit und ohne Nucleophilzusatz verfolgt werden. Bei Ansätzen ohne Nucleophile konnte so für den Isocyanatweg durch das Fehlen eines entsprechenden Banden im IR Spektrum ein Zerfall durch thermische Dissoziation in freies Isocyanat und Amid und Erklärung des Spaltungsverhaltens über diesen Weg ausgeschlossen werden. Im Dia dargestellt ist eine 60 fach wiederholte Registrierung eines Spektrums im 5 min Abstand. Es zeigt, daß die Verbindung über den gesamten Meßzeitraum stabil ist. Auf weitere Einzelheiten werde ich an einem späteren Beispiel eingehen. Als in vitro Modellsubstanzen für die in reaktiven Zentren von Enzymen häufig anzutreffenden SH- bzw. NH- Funktionen wurden für SH Thiophenol und Benzylmercaptan, für NH verschiedene Amine verwendet.  Die Selektivität der Spaltung war erfreulich. Reaktionen mit OH-, SH- Nucleophilen und CH- aciden Substanzen trat nicht ein. Da die biologischen Effekte von Isocyanaten, wie erwähnt, wesentlich auf die Reaktion mit Aminogruppen von Biomolekülen zurückzuführen sind, ist hier eine wichtige Eigenschaft der "Wirkform" in der potentiellen "Transportform" erhalten geblieben. Um den Einfluß der Basizität der eingesetzten Amine abzuklären, wurden Imidazol, Anilin, Benzylamin, Cyclohexylamin, Piperidin und Morpholin erprobt. Während sich die Substanzen gegen Anilin und Imidazol inert verhielten, gab es Unterschiede zwischen primären Aminen und sekundären Aminen. Innerhalb der Gruppen gab es keine Unterschiede, so daß die Untersuchungen auf Benzylamin als primäres und Piperidin als sekundäres Amin beschränkt werden konnten.

Dia.B21 [Übersicht Spaltwege]

Neben den erwähnten Hauptreaktionswegen können eine Reihe von "Nebenwegen" auftreten. Nebenwege bedeutet hierbei nicht Nebenprodukte, die Produkte sind Haupt- oder einziges Reaktionsprodukt. Als Ausweichreaktionen (Weg e) treten bei geeignet konstruierten Verbindungen Substitutionen von Halogenoder Additionen an Doppelbindungenim Rest R1 auf. Im Falle aliphatischer Reste R2 ist dies die einzige zu beobachtende Reaktion. Bei ausreichender NH- Acidität werden auch Salzbildungen (Weg d) mit den zur Spaltung gedachten Aminen beobachtet. Wenn es sich beim Acylrest um einen Formylrest handelt, wird abweichend vom üblichen Spaltungsverhalten nur eine Abspaltung (Weg a) oder Übertragung (Weg b) des Acylrestes auf das Amin beobachtet.
Auf die ungewöhnliche Halogenverschiebungsreaktion (Wegc), die noch Gegenstand eingehender Untersuchungen ist, möchte ich an dieser Stelle nicht näher eingehen.
Die folgende Grafik,

Dia.B22 [Grafik 1 Sp.Prod. Standard-Verb.]

zeigt einen Überblick über die Spaltung und Ausbeute an einigen Beispielen in Abhängigkeit vom Substituenten.
Die X-Achse ist nach steigendem Elektronenzug geordnet und mit Versuchsnummern beschriftet. Sie sollten bitte nur das Auftreten von sowohl Isocyanat als auch Acylisocyanatprodukten bei Verb. 1023, N-Phenyl-N'-benzoyl-harnstoff zur Kenntnis nehmen.
Um das beobachtete Spaltungsverhalten einheitlicher zu gestalten, wollte ich durch Blockierung an N- bzw. N'- gemäß nachfolgendem Schema,

Dia.B23 [Blockierungstypen I und II]

jeweils eine der denkbaren Spaltungsmöglichkeiten verhindern. Bei Verbindungen des Typs I sollten Acylisocyanate und bei Verbindungen des Typs II Isocyanate durch die Blockierung nicht auftreten können. Zur Darstellung sind mehrere Zugangswege theoretisch vorstellbar. So sollten Derivate des Typs I formal aus N-substituierten Carboxamiden und Isocyanaten zugänglich sein. Während sich jedoch N-unsubstituierte Carboxamide problemlos mit Isocyanaten umsetzen, versagt die Reaktion mit den meisten N-substituierten Amiden mit Ausnahme der Lactamen. Eine Erklärung für dieses Verhalten soll nach Literaturangaben (30) in der "zu geringen Basizität" der Amide zu suchen sein. Es gelang uns in dieser Reihe erstmals sowohl N-Methyl- als auch N-Phenyl-formamide mit Isocyanaten umzusetzen. Dies erinnert an Befunde von Möhrle und Spillmann an N-Mannichbasen. Dort lassen sich gleichfalls N-substituierte Formamide, im Gegensatz zu anderen sekundären Amiden, einsetzen. In den Spaltungsuntersuchungen der Produkte zeigte sich ein differenziertes Bild, je nach Substituent R am Stickstoff des ursprünglichen Formylrestes.

Dia.B24 [Spaltung der sek. Formamide]

Nur Derivate des Formanilids ergaben über Isocyanatspaltung erklärbare Produkte, Derivate des N-Methylformamids erwiesen sich, wie die N- unsubstituierten Derivate, als Transformylierungsreagentien. Die IR-spektroskopische Kontrolle der Spaltungsansätze ohne Amin ergab für die Formanilidderivate das Auftreten eines Isocyanatpeaks, so daß ein thermisch induzierter Zerfall nicht auszuschließen war. Bei der Untersuchung von Lactam-Isocyanataddukte erwies sich die Spaltung von der Ringgröße des Lactamringes abhängig, wie die folgende Grafik zeigt.

Dia.B25 [Grafik 2 Sp.Prod. Lactame]

Kleinringige Lactamderivate [< 5 Kohlenstoffe] (X-Achse nach Ringgröße geordnet) waren stabil, größere ergaben die erwünschten Spaltprodukte. Die Ausbeuten an Spaltprodukt korrelierten mit der Ringgröße und dem Einfluß des Substituenten R, hier am Beispiel 4-Cl-Phenyl und Phenyl gezeigt. Die "in situ"-IR-spektroskopischen Untersuchungen der Produkte ohne Nucleophilzusatz waren enttäuschend, da die Spektren den Isocyanaten zuzuordnende Banden aufwiesen.

Dia.B26 [Spektren 2 Iso bei Lactam] 

Spektrum 2a zeigt den Ausgangszustand. Spektrum 2b ein unter gleichen Bedingungen aufgenommenes Spektrum von Phenylisocyanat. Spektrum 2c zeigt das durch wiederholte Registrierung während des Erhitzens gewonnene Spektrum mit dem anwachsenden Isocyanatpeak. Spektrum 2d zeigt den auch nach Beenden des Erhitzens anhaltenden Endzustand. Daher waren diese Verbindungen für den angestrebten Untersuchungszweck ungeeignet.

Dia.B27 [Blockierungstypen III u. IV]

Bitte betrachten Sie zuerst den oberen Teil des Dias. Am arylsubstituierten Stickstoff blockierte Verbindungen waren durch Umsetzung von Acylisocyanaten mit sekundären Aminen erhältlich. Leider zersetzten sich einige der Produkte schon nach kurzer Zeit unter blauer Verfärbung. Dies entspricht Befunden von Kiemstedt und Sundermeyer (31) an Umsetzungsprodukten zwischen Trifluoracetylisocyanat und N,N-Diphenylamin. Derivate, mit für die Untersuchungen ausreichender Stabilität ergaben in guten Ausbeuten ausschließlich Produkte, die über einen Acylisocyanatweg erklärbar sind. Als weitere Möglichkeit zur Herstellung blockierter Derivate sollten Substanzen mit den im unterem Teil des Dias abgebildeten Baumustern untersucht werden. Nach unseren bisherigen Erkenntnissen waren vom Typ III Isocyanat, vom Typ IV Acylisocyanatpräkursoreigenschaften zu erwarten. Die Verbindungen des Typs III sind durch Umsetzung von Ketiminen mit Phosgen und Aminolyse der Carbamoylchloride oder aus Ketiminen (32) mit Isocyanaten herstellbar, wobei ich aus praktischen Erwägungen den letzteren Weg für die Synthesen wählte. An Umsetzungsprodukten waren meines Wissens bisher nur einige Diphenylmethylenharnstoffe hergestellt und von einer russischen Arbeitsgruppe (33) in Aminolyseuntersuchungen getestet worden.

Dia.B28 [Russen/Wir - Ketimin/Iso]

Als Ergebnis wurden Additionen an die Doppelbindung beschrieben. Wir haben diese Untersuchungen aufgegriffen und sowohl nach der Originalvorschrift (34), als auch mit unseren "Standardbedingungen" bei der Aminolyse nur Produkte eines Isocyanat-weges und kein Additionsprodukt gefunden. Dabei lagen die säulenchromatographisch bestimmten Substanzwieder-findungsraten größer 80 - 90 %. Bei den nachfolgenden Spaltungsuntersuchungen wurden nur mit NH-Nucleophilen Produkte eines Isocyanatweges in Ausbeuten größer 80 % - 100 % erhalten. Ein unterschiedliches Spaltungsverhalten durch den Wechsel von primärem zu sekundärem Amin war nicht zu beobachten. Ohne Aminzusatz waren die Substanzen stabil.

DiaB29 [Derivate Typ IV Ketimin-Acyliso]

N-Acyl-N'-alkylidenharnstoffe sind meines Wissens bisher noch nicht beschrieben worden. Wir konnten sie unter milden Bedingungen bei -15 oC in absolutem Tetrahydrofuran aus Ketiminen und Acylisocyanaten erhalten. In den Spaltungsunter-suchungen erwiesen sich die Verbindungen in Abwesenheit von Nucleophilen, auch bei in-situ-IR-Untersuchungen, als stabil.
Mit Aminen gaben sie, wie erwartet, in Ausbeuten über 80 bis 99 % die Produkte eines Acylisocyanatweges. Eine Besonderheit stellen in diesen Reihen Addukte zwischen Acylisocyanaten und Isopropylphenylketimin dar.

Dia.B30 [Spektrum 3 Acylimin-Eniso]

Nach neueren Untersuchungen (35) liegt Isopropylphenylketimin in der Iminoform und nicht in einer denkbaren Enaminostruktur vor. Die Additionsprodukte mit Acylisocyanaten lagern sich nach 1H-NMR- Untersuchungen, das Auftreten der beiden isolierten Methylsignale beweist das Vorliegen der Verbindung in der Enaminoform, jedoch vollständig in die Enaminoprodukte um, wie es für derartige tautomeriefähige Systeme zu erwarten ist.

Dia.B31 [Spaltung Acyliso-Ketimin]

In den Spaltungsuntersuchungen ergaben sie hingegen ausschließlich Produkte des Acylisocyanatweges, was eine Reaktion aus den Alkylidenharnstoff-Tautomeren gemäß dem gezeigten Schema nahelegt. Das wird zusätzlich dadurch gestützt, daß Produkte einer denkbaren En-Isocyanatspaltung nicht beobachtet wurden. Damit unterscheiden sich diese Verbindungen erheblich von anderen bekannten Derivaten mit formal vergleichbaren C=N-Doppelbindungssystemen. Wegen der als nachteilig empfundenen notwendigen Beschränkung auf Ketimine wurden dann, zur Erzielung blockierter Derivate Umsetzungsprodukte von Imidaten, auch Imidoester genannt, und Isocyanaten hergestellt und untersucht

Dia.B32 [Imidate u. Isocyanate]

Im Gegensatz zur sonst breiten Bearbeitung der Imidate sind Umsetzungen mit Iso- und Acylisocyanaten meines Wissens bisher noch nicht vorgenommen worden (36). Imidate sind durch die bekannte "Pinner-Reaktion" (37) als Hydrochloride meist gut erhältlich, die freien Basen hingegen sind nur kurzzeitig stabil. Wir stellten erstere daher nach einem literaturüblichen Verfahren (38) her und setzten sie als Basen sofort nach der Freisetzung ohne Isolierung um. Die Reaktion in Tetrahydrofuran bei -15oC verläuft erstaunlich glatt, wobei die Ausbeuten größer 40% bis 90% betrugen. Als Isocyanatkomponente waren nur Arylisocyanate einsetzbar. Wenn R1und/oder R3 aliphatisch sind, werden ausschließlich die aus der Reaktion der entsprechenden Isocyanate mit sich selbst erklärbaren symetrischen Harnstoffe isoliert. Der Strukturbeweis für den Erhalt der Imidoesterpartialstruktur in den Umsetzungsprodukten läßt sich u.a. leicht durch das 13C-NMR am folgenden Beispiel führen.

Dia.B33 [Spektrum 8 13C-Methoxy]

Der Peak für das O-CH3 Signal 3 liegt bei etwa 55 ppm, in guter Übereinstimmung mit der Literatur, die für Methyl als -Substituenten am Sauerstoff 50 - 60 ppm angibt. Ein entsprechender Peak für N-CH3 wird mit maximal 48 ppm, meist um 35 ppm angegeben. In den anschließenden Spaltungsuntersuchungen erwiesen sich die untersuchten Verbindungen in Abwesenheit von Nucleophilen, auch im "in-situ"-Verfahren, wie erhofft als stabil, mit Aminen ergaben sie in guten Ausbeuten die nur Produkte eines Isocyanatweges. Umsetzungsversuche zwischen Imidaten und Acylisocyanate führte anfangs nicht zu den gewünschten Produkten, sondern zu den entsprechenden N,N'- bisacylierten Harnstoffen.

Dia.B34 [Imidate u. Acylisocyanaten]

Ihre Bildung ist analog zu den Isocyanaten als Reaktion der Acylisocyanate mit sich selbst erklärbar. Erfolgreicher waren erst Umsetzungen bei Temperaturen von -70 oC. Die entstandenen Produkte erwiesen sich jedoch als thermolabil. So war es z.T. nicht möglich, die Produkte umzukristallisieren. Dagegen waren sie gegen protische Lösungsmittel wie Ethanol oder Wasser erstaunlich stabil. Einige konnten sogar durch Waschen mit Wasser gereinigt werden. In den Spaltungsuntersuchungen ergaben sie erwartungsgemäß Produkte eines Acylisocyanatweges. Wegen der Empfindlichkeit der Substanzen gegen thermische Belastung wurde jedoch auf Stabilitätsuntersuchungen im sonst üblichen Rahmen verzichtet. Im abschließende Teil meines Vortrags möchte ich nur auf unsere Bemühungen, die zellteilungsbiolgische Wirkung der hergestellten Substanzen zu ermitteln, eingehen.
Zur Untersuchung verwendeten wir eine modifizierte Form des "Kresse-Wurzel-Tests" nach Butula (39). Zur Durchführung läßt man Samen der Gartenkresse (Lepidum sativum) in dest. Wasser auf Filtrierpapier keimen. In der Originalvorschrift nicht erwähnt, aber besonders bemerkenswert erscheint mir, daß man unbehandelte Samen verwendet, die schwer zu bekommen sind. Nach 48 h Kultur bei 20 +/-1 oC wird das Wasser gegen die Prüflösung, als Testkonzentration wurde 1 mg/ml verwendet, ausgetauscht. Nach 24 h bestimmten wir von der Hälfte der Samen, nach weiteren 22 h von dem Rest die Entwicklung der Wurzelhaare, indem wir sie unter einem Stereomikroskop betrachteten, photographierten und vermaßen. Als Wachstumsstörungsrate wurde ihre Entwicklung im Vergleich zu in Wasser gezogenen Samen herangezogen. Besonders beeindruckend fand ich die Ergebnisse bei der Testung der Isocyanat-Imidat-Addukte.

Dia.B35 [Photos Kressewurzeln]

Auf dem Dia sind in der Mitte die Entwicklung der Wurzelhaare der Vergleichspflanze, umgeben vom Ergebnis verschiedener Testansätze zu sehen.Wie sie sehen waren in der Regel die Wurzelhaare nur noch rudimentär entwickelt. Die nächste Stufe ist der Versuch mit interessierten Firmen zusammenzuarbeiten, um die Substanzen in anderen Modellen zu testen. Erste Kontakte konnte ich dabei schon aufnehmen und erhoffe eine Intensivierung der Zusammenarbeit. [Ilusionen habe ich dabei allerdings nicht. Das seit 30 Jahren bestehende Programm des National Cancer Institut der USA hat in dieser Zeit ca. 150.000 Substanzen geprüft. Davon sind 83, das sind 0,0016% bis zur Prüfung am Menschen gelangt. Um einen "Treffer" zu landen braucht man also mehr als Glück.]

Hiermit bin ich fast am Ende meiner Ausführungen.

Ich hoffe, ich konnte Ihnen, ich erinnere nur an den Weg von 1894 Urotropin bis 1989 Taurolidin, ausgehend von der historischen Entwicklung einmündend in meine eigene Arbeit zeigen, daß das Prinzip chemischeReaktivität zur Erzielung biologischer Wirkungen zu nutzen zwar alt bekannt, aber immer noch als aktuell ist.

Abschließend bleibt nur noch Frau Sabine Jürgens für ihre experimentelle Mitarbeit zu danken und Ihnen, meine sehr geehrten Damen und Herren, danke ich für Ihre Aufmerksamkeit.

Literatur :
1. Permeabilitätsbeeinflußung, Änderung des Redox-Potential, pKa-Wertänderungen
2.

1)DD-Carboxypeptidase spaltet D-Ala--Ala,

2) Transpeptidase verknüpft D-Ala mit Glycin

3. international nonproprietary name
4. Neutrale Subst. erhalten den Namen des Moleküls. Nur anionische o
5. Roth / Fenner, Arzneistoffe, Thieme Verlag, S.206 (1988)
6. M. Peyrone, Ann. 51, 1 (1845)
7. Reaktion von Zellen auf Metallspuren aus OP-Besteck
8. B. Rosenberg, Nature, 205, 698 (1965)
9. E. Schneider, PhuZ, 6,161 (1986)
10.

 Literatur ?

11. J. Lutomski, PhuZ 2, 45 (1980)
12. Nicolaur
13. A.T. Shohl u. C.L. Deming, J.Urol., 4, 419, (1920)
14. G. Domagk
15. A. Albert, Selectiv Toxicity, S.30 (1960)
16. Leukozytenuntergang unter 4000 Zellen/mm3. Anzeichen für Zelluntergang wie er z.B. beim Krebs vorkommt.
17. Schutz durch MESNA
18.

1) Gesteigerter DNA-Reparaturmechanismus,

2) Permeabilitätseinschränkungen,

3) Produktion nucleophiler Stoffe als "Abfangreagentien"

19. Entartung best. Retikulumszellen des lymph. Systems
20. Zidovudin i, Retrovir R
21. RetrovirR (Zidovudini) 3'-Azido-2'-desoxythymidin, hemmt die reverse Transkriptase der Retroviren
22.

1) Zellwandpenetration,

2) Uncoating (Abstoßen der Eiweißhülle),

3) Replikation (Virenbau),

4)Maturation (Neue Eiweißhülle),

5) Release (Freisetzung)

23. Naehrstedt, PhuZ, 5, 151 (1977)
24. wie 2
25. P.G. Waser / E. Sibler, Inovative Appr. in Drug Res., 155 (1986)
26. A.Munn, Isocyanates as health hazards, Ann.Occ.Hyg.8,163 (1965)
27. D. Martin, Synth. Senfölbildner, Akad. Verl. Berlin 1962
28. wie 5
29. S. Petersen, Lieb. Ann. Chem. 562, 210 (1949)
30. P.F. Wiley
31. W. Kiemstedt / W. Sundermayer, Chem. Ber. 115, 919 (1982)
32. Grignard
33. B.S. Drach / J.Y. Dolgushina / A.D. Sinitsa / A.V. Kirisanov Zh.Obs. Khim. 42, 1240 (1972)
34. Mit Aminen in Benzol bei RT
35. Th. Kibbel, Diss. 1986
36. Anmerk. zu A. Pinner, Ber. 23, 2923 (1890) im Houben-Weyl ist falsch
37. Nitril-Alkohol-gasf. HCl
38. Zakharov, Zh.org.Khim,8,31(1972)
39. L. Butula, Die Pharmazie

  

Schriften